Der 11. September 2001 ist ein typischer New Yorker Frühherbsttag. Die Schwüle des Sommers ist einer frischen, klaren Luft gewichen. Der Himmel ist wolkenlos und tiefblau. Piloten nennen diese Wetterlage "severe clear" – harte Klarheit – mit scheinbar unendlicher Sicht.
"Wer in diesen Morgenstunden des 11. September auf dem Weg zum Flughafen war", so hieß es später im Bericht der Untersuchungskommission, "hätte sich kein besseres Wetter für eine sichere und angenehme Reise wünschen können."
08:49 Uhr: CNN unterbricht das Programm
Dass aus diesem strahlend blauen Himmel schon kurze Zeit später Terror und Tod kommen sollten, ahnt niemand. Um 8 Uhr 34 berichtet der Nachrichtensender CNN stattdessen über eine andere Gefahr aus der Luft: Die Hurrikane Saison erreicht in dieser Woche ihren Höhepunkt. Ein Reporter berichtet von den Florida Keys. Später geht es um die Erwartungen an den Tag an der Wall Street. Bis CNN um 8:49 Uhr das Programm unterbricht und verstörende Bilder aus New York zeigt: Aus einem der Türme des Word Trade Centers steigt Rauch auf.
Die Moderatorin spricht von "unbestätigten Berichten", ein Flugzeug sei in einen der Türme des World Trade Centers gestürzt. Man versuche herauszufinden, was los ist. Aber offensichtlich sei etwas relativ Verheerendes passiert, dort, am Südende Manhattans.
Historiker zu 9/11: "Fanal für die globalen Gesellschaften"
Die Terroranschläge vom 11. September 2001 seien durchaus eine historische Zäsur gewesen, sagte der Historiker Manfred Berg im DLF. Sie hätten nicht vorhersehbare Folgen wie den Afghanistan- und Irakkrieg gehabt. Heute lebe die Welt im Zeitalter des Terrorismus.
Der damalige ARD-Hörfunkfunk-Korrespondent Thomas Nehls erinnert sich noch genau an diesen Morgen. Er will sich gerade von seiner Wohnung auf den Weg ins Büro machen, als seine Frau ihn auf den Rauch über der Stadt aufmerksam macht:
"Ich stand am Aufzug, wollte aus dem 35. Stock zur Parterre fahren, hatte schon das Knöpfchen gedrückt – das ist alles noch präsent –, als die Tür der Wohnung wieder aufgemacht wurde von meiner Frau Uschi. Und sie sagte: Schätzchen, komm doch noch mal zurück, ich war gerade auf dem Balkon. Da brennt etwas im World Trade Center. – Und ich wurde etwas stutzig: Es brennt etwas im World Trade Center? Aber die Neugier eines gelernten Lokalreporters trieb mich wirklich auf den Balkon. Und da sah ich es brennen im Nordturm des World Trade Centers. Drei, dreieinhalb Kilometer von uns entfernt. Und da sah ich – ich sag jetzt mal bewusst – das Malheur. Denn ich wusste ja nicht, was passiert war."
Erste TV-Bilder: Boeing 767 rast ins Word Trade Center
Nehls alarmiert den Westdeutschen Rundfunk und ist kurze Zeit später auf dem Sender: "Ich dachte – und das sagte ich auch dem Kollegen, der dort moderierte, auf die Frage, was ist denn passiert? Es erinnert mich in diesem Moment, wo ich es noch brennen sehe, wo ich auch die Rauchschwaden herausdringen sah: Es erinnert mich an 1996 am Düsseldorfer Flughafen. Kleine Ursache, große Wirkung. Styropor trifft auf Lötkolben, 17 Tote waren damals das Ergebnis. Ich dachte an so etwas. Sagte dann aber auch noch schnell: Hier in den Vereinigten Staaten gibt es auch verzweifelte Selbstmörder – nicht Selbstmordattentäter – Selbstmörder, die ihre kleinen Cessna-Maschinen in große Gebäude rasen lassen, aber um Selbstmord zu verüben. Oft auch in leere Gebäude. An so etwas dachte ich. Und das war auch der Inhalt des ersten Beitrages. Keine Fake-News, aber ziemlich daneben in der Interpretation."
Auch in den US-Medien hält sich zunächst das Gerücht, es habe sich um ein Kleinflugzeug der Marke Cessna gehandelt. Doch dann gibt es erste Bilder. "We have something that has happened here at the World Trade Center. We noticed…"
Zu sehen ist, wie eine Boeing 767 mit 780 Kilometern pro Stunde zwischen der 94. und 98. Etage in den Nordturm des World Trade Centers rast. Beim Aufprall zerfetzen die prall gefüllten Aluminiumtanks in den Tragflächen. 50 Tonnen Kerosin explodieren in einem Feuerball.
09:03 Uhr: Zweites Flugzeug explodiert im WTC
Flug 11 der American Airlines war kurz vor acht in Boston Richtung Los Angeles gestartet – mit 92 Menschen an Bord. Augenzeugen gehen zunächst von einem Unglück aus. Bis um 9:03 Uhr eine weitere Boeing 767-Passagiermaschine in das World Trade Center jagt und in einem Feuerball explodiert. Mit einer Geschwindigkeit von 870 Kilometern pro Stunde. Diesmal in den Südturm zwischen dem 77. und 85. Stockwerk – live übertragen von zahlreichen Fernsehteams, die inzwischen postiert sind: Der Boden schwankt wie bei einem Erdbeben. Trümmerteile fallen auf die umliegenden Straßen.
TV: "We are now looking at flames shooting out of the north side of Number One World Trade Center. But there are at least some windows of… – Holy Shit – There is another plane just flew into – The explosion is incredible – Both buildings of the World Trade Center…"
United Airlines Flug 175 war ebenfalls auf dem Weg von Boston nach Los Angeles. Mit 65 Menschen an Bord. Darunter – wie auch in der ersten Maschine – fünf Terroristen. Sie haben die Crews mit Dolchen und Teppichmessern überwältigt und aus den Flugzeugen fliegende Bomben mit menschlicher Fracht gemacht. Die Terroristen ändern den Kurs der Flugzeuge und steuern New York City an.
09:05 Uhr: Bush wird über den Angriff informiert
Das Ziel ihrer Attacke könnte symbolischer kaum sein: Die Zwillingstürme des World Trade Centers, das höchste Gebäude der westlichen Hemisphäre, das wichtigste Symbol der US-amerikanischen Dominanz im Welthandel. Die Ikone des Kapitalismus. Der Inbegriff von Größe, Autorität und Überlegenheit der Supermacht USA, die sich bis zu diesem Tag für unverwundbar hält.
Um 9:05 Uhr, zwei Minuten nach dem Einschlag der zweiten Maschine, wird US-Präsident Bush informiert. Der sitzt ahnungslos in einer Schulklasse in Florida, als ihn Stabschef Andrew Card zuraunt: "Amerika wird angegriffen". 25 Minuten später wendet sich ein hörbar geschockter Bush in einer improvisierten Pressekonferenz an die Nation:
"Today we have had a national Tragedy (…) to hunt down and to find those folks who committed this act." Er spricht von einer "nationalen Tragödie". Die USA seien "offensichtlich" Ziel eines Terrorangriffs geworden. Bush verspricht, umfangreiche Ermittlungen, um die Verantwortlichen zur Strecke zu bringen.
Ziviler Flugverkehr wird komplett eingestellt
Zu diesem Zeitpunkt sind die Flughäfen in New York City bereits geschlossen. Vier Minuten danach ordnen die Behörden die Schließung aller Brücken und Tunnel der Stadt an. Der U-Bahn-Verkehr wird eingeschränkt.
Bürgermeister Rudolph Giuliani eilt zum Anschlagsort im Süden Manhattans. Die Menschen sollten sich ruhig verhalten und zu Hause bleiben. Aber wer sich südlich der Canal Street aufhalte – 16 Blocks vom World Trade Center entfernt –, solle zügig Richtung Norden gehen. Der New Yorker Luftraum werde jetzt von Militärflugzeugen geschützt. Man hoffe, die Lage sei jetzt sicher.
09:43 Uhr: Dritte Maschine rast ins Pentagon
Zum ersten Mal in der Geschichte der USA wird der gesamte zivile Flugverkehr im Land eingestellt. Da ist es 9:40 Uhr. Drei Minuten später die nächste Horrormeldung: Eine dritte Maschine – Flug 77 der American Airlines – rast mit 64 Menschen an Bord ins US-Verteidigungsministerium in Arlington bei Washington. Terroristen haben das Flugzeug, das auf dem Weg vom Washingtoner Dulles Airport nach Los Angeles war, entführt und zum Absturz gebracht.
Auch dieses Ziel ist hochsymbolisch: Das Pentagon, das Nervenzentrum der größten Militärmacht, die es je gegeben hat, brennt. In Washington werden daraufhin das Weiße Haus, Ministerien und das Kapitol evakuiert. Später wird in der Stadt der Notstand ausgerufen.
In New York breiten sich währenddessen die Flammen in den Zwillingstürmen des World Trade Centers rasch aus. Viele Menschen sind eingeschlossen, setzen verzweifelte Hilferufe ab. Menschen springen in Panik aus den Fenstern. Sie stürzen sich lieber aus 300 Metern Höhe in den Tod, als in den Türmen zu verbrennen. In den Straßen Chaos. Menschen versuchen, ihre Angehörigen zu erreichen. Wer kann, flieht nach Norden.
09:59 Uhr: Südturm des World Trade Centers stürzt ein
Für Polizisten und Feuerwehrleute geht es dagegen in die andere Richtung: Total Recall – alle verfügbaren Kräfte hin zu den brennenden Türmen: "We want the attention of all New York City firefighters within the sound of our voices: Total Recall is in effect. All firefighters and officers should report to duty. You are needed!"
Für viele dieser Ersthelfer wird der Einsatz zur tödlichen Falle. Um 9:59 Uhr passiert das, was Statiker eigentlich für ausgeschlossen hielten. Der 110-stöckige Südturm des World Trade Centers, ein 900.000 Tonnen schwerer Koloss aus Stahl und Beton, stürzt innerhalb von neun Sekunden in sich zusammen und reißt auch viele Einsatzkräfte mit in den Tod. Die Konstruktion hält der Hitze des brennenden Kerosins einfach nicht stand. "It is falling, just better run. – The tower is coming down. – Oh, shit. – The tower appears to crumble and start to fall."
Thomas Nehls: "Auch das konnte ich sehen und erinnere mich auch an diesen Moment 20 Jahre danach – mehr oder weniger – in erster Linie an riesige Staubwolken, Zementwolken, an einen grau verhangenen Himmel an der Südspitze Manhattans, der fast die Sicht nicht mehr erlaubte, obwohl es ein so helllichter Tag gewesen ist."
10:03 Uhr: Viertes Flugzeug stürzt bei Shanksville, Pennsylvania ab
Um 10:03 Uhr geht die Serie der mörderischen Anschläge weiter: Bei Shanksville im US-Bundesstaat Pennsylvania bohrt sich der United Airlines Flug 93 mit 44 Menschen an Bord in den Boden. Auch diese Maschine, die in Newark bei New York gestartet und auf dem Weg nach San Francisco ist, haben Terroristen entführt. Ihr eigentliches Ziel ist bis heute unklar: Das Weiße Haus? Oder das Kapitol? Am Ende reißt die Maschine nur einen riesigen Krater in einen Acker – vermutlich, weil es Passagieren gelang, die Entführer zu überwältigen. Zwölf Minuten bevor die Maschine Washington erreicht hätte.
Thomas Nehls: "Ich habe dann doch relativ rasch die Vermutung gehabt, dass das kein regelrechtes, sag ich mal, Verbrechen gewesen ist, von amerikanischen Zivilisten, die natürlich auch – ob rechtsradikal oder anders geartet und motiviert – ähnliches gemacht haben in Oklahoma und natürlich auch auf solche Ideen hätten kommen können. Ich dachte dann schon an internationalen Terrorismus. Und ich dachte natürlich auch schon daran, dass hier und da natürlich auch Terroristen, islamistische Terroristen, Amerika gewarnt haben, als eben den Hort der Ungläubigen und Schlimmes vorbereiteten. Das wurde ja auch immer gesagt, aber natürlich wurde nie erklärt, was."
10:28 Uhr: Der zweite Twin-Tower stürzt ein
In New York wird unterdessen das UN-Hauptquartier geräumt. 11.000 Menschen müssen das Gebäude am East River verlassen.
Um 10:28 Uhr stürzt dann auch der zuerst getroffene 417 Meter hohe Nordturm des World Trade Centers innerhalb von zwölf Sekunden in sich zusammen. "…Oh my God… oh my God… – They are both down now."
Die markanten Twin-Towers verschwinden für immer aus der New Yorker Skyline. Tonnenweise Schutt – Stahl, Glas und Beton – stürzen wie eine Lawine herab. Giftige Staubwolken rollen durch die Hochausschluchten Manhattans. Ascheverschmierte Menschen irren durch die Straßen. Panik bricht aus. Menschen fliehen in Richtung der Brücken, die nach Brooklyn führen. Die Behörden ordnen an, ganz Lower Manhattan zu evakuieren.
Zu diesem Zeitpunkt ist noch völlig unklar, wie viele Menschen in den Trümmern gestorben sind. In dem riesigen Komplex des World Trade Center arbeiten 50.000 Menschen. Täglich besuchen 200.000 Menschen das Geschäftszentrum, sitzen in den Restaurants, parken in den Tiefgaragen unter den Türmen.
Rund 3.000 Tote am 11.9.
Die New Yorker Gesundheitsbehörden bestellen vorsorglich 10.000 Leichensäcke – 900 haben sie vorrätig. Erst später stellt sich heraus: Von den rund 17.400 Menschen, die zum Zeitpunkt des ersten Flugzeugeinschlags in den Gebäuden des World Trade Centers waren, konnten sich 87 Prozent retten oder gerettet werden. In den Zwillingstürmen sterben 2.128 Menschen, die hauptsächlich in Büros oberhalb und rund um die Einschlagstelle arbeiten. Insgesamt werden am 11. September 2001 knapp 3.000 Menschen getötet. Die Identifizierung dauert bis heute an. Denn häufig können nur Knochenreste geborgen werden. Wenn überhaupt.
Thomas Nehls: "Ich wusste, es sind einige Zehntausend, – die genaue Zahl kannte ich nicht – die dort in diesen Räumen – Geschäftsräume, Bankräume, et cetera – gearbeitet haben. Und die Zahl 3.000 Tote, die hat sich ja auch an dem Tag noch nicht herausgestellt, sondern Tage – ich zögere fast – wenn nicht Wochen danach. Weil natürlich auch nach und nach Menschen daran starben."
Viele sterben an den Spätfolgen
Bis heute: Denn vor allem viele Ersthelfer, die in den Tagen und Wochen danach ungeschützt dem giftigen Staub ausgesetzt sind, erkranken schwer und bezahlen den Einsatz mit ihrem Leben. Inzwischen sind fast so viele Menschen an den Spätfolgen gestorben wie bei den Anschlägen selbst.
Am Tag selbst ist überall in den USA die Angst groß, auch zum Ziel von Terroristen zu werden. Die Flughäfen in Los Angeles und San Francisco werden geräumt. Der Luftraum ist ohnehin gesperrt. Nur der Präsident wird in der Air Force One – begleitet von Kampfjets – durchs halbe Land geflogen: Von Florida auf einen Militärstützpunkt in Louisiana, dann auf eine Air Force Base in Nebraska. Der Secret Service befürchtet, der Präsident könnte im Weißen Haus nicht sicher sein. Bei seinem Zwischenstopp in Louisiana äußert sich Bush zum zweiten Mal an diesem Tag.
Diese Strategie verfolgen die Taliban
Die Taliban haben in Afghanistan die Macht übernommen. Ihre schnellen militärischen Erfolge der Islamisten sind auch auf Fehler des Westens zurückzuführen. Wie organisieren sich die Taliban jetzt und was heißt das für die afghanischen Bevölkerung?
"Die Freiheit selbst wurde heute Morgen von einem gesichtslosen Feigling angegriffen, und die Freiheit wird verteidigt werden. Es besteht kein Zweifel daran: Die Vereinigten Staaten werden die, die für diese feigen Taten verantwortlich sind, zur Strecke bringen und bestrafen."
Al-Qaida und bin Laden beschuldigt
Aber wer ist dieser gesichtslose Feigling, der die stolze Nation auf eigenem Boden so verheerend angegriffen hat? Politiker, Geheimdienst- und Terrorismusexperten bringen schnell die radikal-islamische Terrororganisation Al-Qaida uns deren Gründer Osama bin Laden ins Spiel. Auch die US-Regierung beschuldigt schnell bin Laden die Anschläge initiiert, in Auftrag gegeben und mitfinanziert zu haben und begründet das mit Erkenntnissen der Geheimdienste, die allerdings von der Planung, Vorbereitung und Durchführung der Anschläge völlig überrascht worden sind.
Thomas Nehls: "Als dann noch herauskam, dass da von den Terroristen, die da in den Cockpits saßen, die meisten, wenn nicht alle, sich in Amerika hatten ausbilden lassen, um den Flugschein zu erwerben, da war es natürlich auch so, dass sich der Gedanke aufdrängte, wie kann das dieser Supermacht passieren – militärisch, wirtschaftlich immer noch das mächtigste Land der Welt – lässt es zu, dass sich eben Terroristen an Ort und Stelle – die sind ja nicht am Vortag eingereist – sich so etwas einfallen lassen können."
20:30 Uhr: Rede an die Nation - Bush kündigt Vergeltung an
Eine Frage, die am Abend dieses 11. Septembers auch US-Präsident Bush nicht beantworten kann. Er ist nach seiner Odyssee um kurz vor 19 Uhr ins Weiße Haus zurückgekehrt und hält um 20:30 Uhr eine Rede an die Nation, in der er stattdessen in die Offensive geht und Vergeltung ankündigt:
"Wir werden keinen Unterschied zwischen den terroristischen Tätern und denjenigen machen, die ihnen Unterschlupf gewähren."
Damit ist nicht nur rhetorisch der Weg bereitet für einen Krieg in Afghanistan, der nun im Desaster endete. Vor allem das gibt dem ehemaligen ARD-Korrespondenten Thomas Nehls zu denken – 20 Jahre nach diesem 11. September 2001.
"Es ist mir unerklärlich, dass eine Supermacht damals, am 11.9.2001, und auch jetzt in der Endphase von Afghanistan, so unzulänglich von den Geheimdiensten her, vom Militär her und auch von der Politik her überhaupt – und das auch noch mit dem Anspruch Weltführer zu sein – denken und handeln kann."